luftiges bewohnen eines anderen Körpers
zeichnen als anverwandeln, kombinieren und collagieren, 2024
„Anagramme sind Worte oder Sätze, die durch Umstellen der Buchstaben eines Wortes oder Satzes entstehen. Nur die gegebenen Buchstaben sind verwendbar und keine anderen dürfen zur Hilfe gerufen werden.“ schreibt Unica Zürn. Ein Anagramm ist auch „die erste verrückte Botschaft, die sie aussendet.“∞

„Ein Anagramm ist das Gedicht
gemacht im Anti-Sarg, im Sande.
An Ti gedacht, im Gras, im Sande,
stimmt dich der i-aa-Gesang an.“∞

Die Buchstaben im Anagramm sind verrückt, verschoben, von der Linie abgekommen. Durch Verschiebung und Permutation haben sie keinen außersprachlichen Referenten mehr. Die vorausgesetzte Verknüpfung zwischen Sprache und Wirklichkeit ist getrennt. Den Wörtern unterliegen Wörter und nicht Dinge.•◊

„Das singt ein Tiger am am Dach.
Das ist mein Rachetag am Ding“∞

„Im Anagramm gibt es kein letztgültiges Signifikat, mit der Umkehrbarkeit ist die Bewegung der Rotation eingeführt, Drehung um die Achse des Zeichens und Verbindung der Zeichen untereinander durch ein Übergreifen von einer Drehung in die nächstfolgende.“≈

„Fragen ohne Antwort. Das ist es, was sie braucht. Ihr reicht es mit den Lösungen.“∞

„Die Strategien der Umkehrung, Vertauschung, Vieldeutigkeit und Transformation erlauben dem Subjekt, das dauernde entschlüpfen des Wesentlichen (Wahrheit, Erkenntnis, Sinn, Identität) zu demonstrieren.“≈

„das Anagramm, dein geisticht
arme Magd sagt an: dein Ich ist
ein Gramm Dichtang. Ist das E-A“∞

Lese ich „Das ist ein Anagrammgedicht“ von Unica Zürn, lese ich zugleich Gleiches und Verschiedenes. Und Unsichtbares. Lese ich ein Anagramm, sehe ich es nicht. Sind das Wörter im Anagramm?

„Kinder rettet den Sprung! Sagt leis: Reis, Sand …“∞

Die Wörter rieseln und werden flockig, lockern ihre Glieder. Sie verlieren ihre Beziehung zur Wirklichkeit, zum Ding, aber werden ein Ding für sich, machen ihr Ding in der Sprache.

„ein Gramm ANA. Das Gedicht ist
im Na gemacht. Rest: DAS NA IGDI
ist der anamitische Dang-Gam-
Gam-Gan-dit- ein dramatisches
Gedicht. Das ist ein Anagramm.“∞

Sind das Formen in der Zeichnung oder Wörter, Wort-Dinge, Zeichen? Wie weit ist die Form vom Ding entfernt? Wo ist das Ding zur Form? „Dichtang“? Dichting? PING ! Woher kommen die Formen? Woher kommen die Wörter? Kann ein Anagramm gezeichnet werden, in der Zeichnung, mit Linien anagrammiert werden? Kein Verfahren wird hier angewendet. Wörter können nicht in Zeichnung übersetzt werden. Oder sind die Wörter Formen? Ich kann mit Formen hantieren, als ob sie verschobene, verrückte Wörter wären. Meine gefundenen, erfundenen zusammengestückelten Wörter. Wortfetzen. Zeichnen ist anagrammatisch.

„Anagrammatisch im weiteren Sinne heißen alle ähnlichen Umstellungen, durch die ein Wort in ein anderes oder mehrere andere Wörter verwandelt oder über den weiteren Kontext, mit mehr oder weniger Rücksicht auf Reste und Verdoppelungen, verteilt ist. Im weitestgehenden Sinne heißen anagrammatisch dann auch Textstücke, die jeden Text, markiert oder unmarkiert, erkannt oder unerkannt, durchziehen und intertextuell mit den Texten, die ihn auf diese Weise zitieren und repräsentieren, in Verbindung bringen und halten.“◊

Ist das Gedicht ein Brombeerdickicht?

Anagrammatisch Zeichnen als Spiel, als Augengezwinker. Nicht übertragbar, aber eine Denk- und Spielmöglichkeit. Zeichnen ist anagrammatisch. Das ist, zeichnen ist abzeichnen, anverwandeln, kombinieren, collagieren. „Codex Zürn“ als ein anagrammatisches Spiel? Die Verwandlung entsteht durch Intensität. Sie ist Sehnsucht und Experiment. Werde ich mich verwandeln, wird das Zeichnen sich verwandeln?

„Perlenzimt im Venuswald. Zierde, ich zoegere.“∞

Zum Beispiel das Rashomon-Prinzip. Wie schreibt Unica Zürn? Ihr Lieblingsfilm ist Akira Kurosawas „Rashomon“. Vier Mal wird in dem Film dieselbe Geschichte verschoben, verrückt, zerlegt und dabei jedes Mal anders wiedererzählt. Unica Zürn zerstückelt, zerteilt, teilt, trennt auf und steckt, fügt zusammen.~

„Jemand näht! Bist Du das?“∞

Nicht nur verstecken sich Sätze in anderen Sätzen, wiederholt stecken Textpassagen einmal in Briefen, in Anagrammgedichten, in Prosatexten.
„Irr-See-
Irr-Sinn“∞
„dein Ich ist / ein Gramm Dichtang.“∞ Ein gestückeltes Wort, „Dichtang“. Das Ich teilt sich, anverwandelt sich. Dichtang, ein Gemisch aus Du und Tang, Seetang, Seetung. Dichtung. Etwas Fasriges, Umschlingendes. „Dichtang“ gelesen, das heißt gesammelt, abgezählt aus der vorherigen Zeile. Formen lesen. Auch diesen Formen fehlt ihr Ding-Bezug, nicht aber ihre Geschichte. Carol Rama, Meret Oppenheim, Paul Klee, Anni Albers, Toyen usf. Woher kommen ihre Formen? Sie sind schon gedreht, gestückelt, gestülpt, gewendet. Ich drehe sie weiter. Anverwandlung nicht Appropriation.

„Das Anagramm Zürns als Maschine mit beschränktem Material, aber ständig wechselnden Verfahren; Schichten, die ineinander übersetzen, vor allem darum bemüht, den gesicherten Boden der Herstellung von Objektbezügen zu verlassen; Belebung der Materie, indem man sich als Medium einführt, sich an die Schwelle, den Ort der Übersetzung, begibt und, von außen gesehen, die Umkehr des bewußten Automatismus der Surrealisten vollzieht, automatisches Bewußtsein, der Automat des Anderen wird“≈

Anverwandlung und Kombinatorik. Wie spricht die Zungenmaschine? NA IGDI. Träumt die Zunge oder die Sprache?

„der Rest als das Geheimnis, das nicht enthüllt wird“≈

„im Na gemacht. Rest: DAS NA IGDI.“∞


∞ Unica Zürn: Gesamtausgabe, hrsg. von Günter Bose und Erich Brinkmann, Berlin 1991, Bd. 1 u. Bd. 4.1, S.195 (4.1), S.92 (1), S.92 (1), S.92 (1), S.9 (1), S.92 (1), S.41 (1), S.151 (4.1), S.149 (4.1), S.92 (1), S.92(1)
• Renate Kühn: Das Rosenbaertlein-Experiment : Studie zum Anagramm, Bielefeld, 1994.,S.7 - 42.
≈ Sabine Scholl: Unica Zürn: Fehler Fallen Kunst : zur Wahrnehmung und Re/ Produktion bei Unica Zürn, Frankfurt a. M. 1990, S.88, 96, 88, 90.
◊ Anselm Haverkamp: Anagramm, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden hrsg. von Karlheinz Barck, B. 1, Stuttgart u.a. 2000 -2005, S.133 – 152, S.137
~ in einem Gespräch mit Natascha Gangl


über Codex Zürn
Einer der Ausgangspunkte der Zeichnungen aus Codex Zürn, die derzeit entstehen, ist die Lektüre des Werks der Künstlerin und Schriftstellerin Unica Zürn, insbesondere ihrer Anagrammgedichte. Wiederholungen und Verschiebungen, Verwandte des Anagramms, finden sich auch in der Struktur der Zeichnungen wieder. Gezeichnete Dinge und Körperteile, die zwischen Ding, Buchstabe, Körper, Tier und Ornament wechseln, fungieren darin wie Wörter in einem Gedicht. Sie wiederholen, widersprechen sich und treten in eine Beziehung miteinander. Die gezeichnten Wort-Dinge sind aufgefunden, eine Sammlung, Collage aus Fragmenten von Werken beispielsweise von Carol Rama, Meret Oppenheim, mittelalterlichen Codices u.a. Es geht dabei nicht um Appropriation, sondern um Anverwandlung. Hinübersetzen und Verwandeln.

"Wandeln hat – anders als ändern – mit innen und aussen zu tun, mit geraumen bewegungen beidseits der wand. Einer wand im wort wie im raum, die ein einerseits hat und ein andererseits und vom ich, von mir aus: ein diesseits und jenseits, eine jeweils nichtsicht-, eine nichteinsehbare seite, hat einen anderen raum hinter sich, der das zauberische, das geheimnis einer jeden wandlung birgt.“
Barbara Köhler, MIT EIGENEN WORTEN, In: Gertrude Stein, Tender Buttons, Zarte knöpft, Deutsch von Barbara Köhler, Frankfurt a. M. 2004, S.134
über viola volando
Ausgangspunkt für viola volando (2020) war der Gedichtzyklus El vento de l'eterno se fa teso des italienischen Lyrikers Biagio Marin und das Buch Voiles von Hélène Cixous und Jacques Derrida. Das Gedicht als Gewebe, als Grund fürs Zeichnen, trägt die Zeichnung gleichermaßen wie es von ihr getragen wird. In den Sprüngen kann eine Zeichnung, ein Text, ein Bild, ein Wort Splitter, Spuren der jeweils anderen in sich tragen.
viola volando besteht aus einer Serie von 27 Zeichnungen, aus zweimal 27 Notizblättern, einer temporären Collage (Textteppich), in der gesammelte Bilder und Texte, Notizbücher- und Blätter sowie Bücher ineinander verwoben sind, und dem Text viola volando, gedruckt auf dem gleichen Papier wie die Zeichnungen. Eine Verknüpfung von Zeichnung und Text entsteht, eine Konstellation. Es geht dabei nicht um ein einzelnes Werk, eine einzelne Zeichnung, sondern um die Beziehung innerhalb einer Serie von Zeichnungen und zwischen Zeichnung und Text.
viola volando. Violett im Flug. Was fliegt, verfliegt, ist der Ferne nah, der Unsichtbarkeit, dem Nichtsehen. Was auffliegt, erschüttert Festgesetztes. Eines kann Vieles werden. Zeichnen Schreiben Schrift Körper Gedicht Brombeerdickicht
über gedicht gedicht gedicht ist mein körper
Ausgangspunkt von gedicht gedicht gedicht ist mein körper (2018) ist das Wek der dänischen Lyrikerin Inger Christensen, insbesondre ihr Gedichtband lys/licht (1962).
Wie der Titel gedicht gedicht gedicht ist mein körper bereits sagt, liegen Lesen, Schreiben und Zeichnen dicht nebeneinander. Körper und Schrift. Buchstaben als Bruchstücke von Körperteilen, Schriftfragmenten. So nah, dass es einen Ort gibt an dem ein Überspringen möglich wird. Das Gedicht, der Körper, die Zeichnung. Die Werkserie besteht aus Zeichnungen, einem Text und einer Tischvitrine mit einer variablen Collage aus Zeichnungen und Notizen.