zu Zeichnungen von Natalie Neumaier, Andreas Spiegl 2018
Die Arbeiten von Natalie Neumaier zeichnen sich durch ein Schreiben und Zeichnen aus, die ineinander übergehen, auseinander hervorgehen und sich in die Schrift genauso einzeichnen wie sie sich in die Zeichnungen einschreiben. Das Lesen, die Lektüre des von ihr Geschriebenen und Gezeichneten kommt nicht umhin, dem Sichtbaren etwas abzulesen und der Schrift eine Herkunft aus dem Zeichnen anzusehen. Wenn sich Schrift an eine Lesbarkeit wendet, so zeichnet sich in ihren Aufzeichnungen ein Übergang zur Unleserlichkeit ab, eine Übersetzung des Buchstäblichen ins Gezeichnete, eine Beschreibung des Schreibens als eine Form des Zeichnens. Die Zeichen werden rückübersetzt in Gezeichnetes: Was für eine phonetische Schrift gehalten werden mag, die den Klang der Stimme sichtbar notieren und damit einen Dialog von Auge und Ohr in Gang setzen soll, wird rückübersetzt in Spuren eines Vorzeichens, einer Ankündigung von Schrift. Anstelle bloß zu schreiben, tendieren die Arbeiten von Neumaier dazu, der Schrift etwas vorzuzeichnen, ein Momentum vor der Schrift, die erst auf das Buchstäbliche zusteuert…oder den Vorschriften der Schreibweise trotzt. Neumaier führt das Schreiben und Zeichnen in eine Zone der permanenten Übersetzung ineinander, die eine Entscheidung darüber, ob die Blätter nun für Schriften oder Zeichnungen gehalten werden sollen, der Unentscheidbarkeit überantwortet. Entschieden plädieren sie für ein Zwiefaches, einen Raum des Dazwischen, der der Aufteilung in Schrift und Zeichnung vorgelagert wird. Die Lektüre ist mehr als ein Lesen und das Lesen lässt sich nicht davon abhalten, dem Verlauf der Buchstaben buchstäblich zu folgen. Wenn ihre Arbeiten aus der Entfernung dem Diffusen das Wort reden, einen Eindruck von Unschärfe vermitteln, dann zeichnet sich aus der Nähe gesehen ein Diffundieren ab, ein Streuen und Verstreuen von Strichen und Punkten, die ihren Gegenstand gleichermaßen auflösen wie konfigurieren. Hier wird Bedeutung verstreut, der Dissemination das Wort geredet.

Dass sich Neumaier in ihrem Interesse für Literatur dieser Dissemination von Bedeutungen verbunden fühlt, zeigt sich auch an den Autor*innen, mit denen sie sich immer wieder und wiederholt auseinandersetzt: Allen von voran mit Hélène Cixous, mit Maurice Blanchot, Inger Christensen, Walter Benjamin – mithin Autor*innen, die sich in ihren Modi des Schreibens immer wieder und wiederholt über die Vorschriften von Schreibweisen hinweggesetzt haben, die nicht davor zurückgeschreckt sind, ihre Schriften an die Grenzen der Lesbarkeit und über diese hinaus zu tragen. Neumaier schreckt nicht davor zurück, deren Texte nochmals ins Auge, in den Mund zu nehmen, zur Hand zu nehmen und die entsprechenden Passagen oder Wörter zu markieren, die Momente der Streuung herauszustreichen, anzuzeichnen, wo das Zeichnen mit Wörtern dem Beschreiben durch Wörter vorauseilt. Ihre Notationen notieren die Dialoge von Auge und Ohr, sie schreiben sich ein und verzeichnen die Zonen vervielfachter Lesbarkeit, eine Mehrsprachigkeit, die in jedem Wort lokalisiert und aus diesem herausgelesen und ausgelöst wird. Was sich wie ein Hybrid aus Texten und Zeichnungen vermittelt, trägt eine Losung in sich. Im Auflösen der Grenzen zwischen den Genres zeichnet sich eine Losung ab, ein Losungswort, das sich in der Zeichnung tendenziell auflöst, ein Passwort, das in seiner Unaussprechlichkeit eine Passage öffnet. Mit ihren Markierungen und Notationen nimmt Neumaier die Wörter und Buchstaben einzeln in die Hand und zerkaut ihre Lesbarkeit, kratzt grafisch an den Erscheinungsbildern von Bedeutung.
Violett im Flug, Interview mit Angelika Seebacher, MUSA Startgalerie, Wien Museum 2020
Ich spreche die Sprache, die ich nicht spreche
Notizen zu den unsichtbaren Bildern in der Ausstellung "viola volando"
, Peter Waterhouse, 2020
e tu no‘ tu riturni

In unseren Gesprächen hat Natalie Neumaier immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß die Blätter aus dem Zyklus viola volando lichtgeschützt aufzubewahren seien, eingehüllt in die Seidenpapiere und eingelegt in die graubraune Mappe. Es sind Blätter der Papeteries de Clairefontaine – Papier für Schule, Studium, Freizeit und Büro. Die Blätter sind alle hellgelb gefärbt. Es handelt sich um Photokopierpapier und die Farbe ist nicht lichtbeständig. Dem Licht ausgesetzt, der Beleuchtung und der Sichtbarkeit exponiert, zu Exponaten gemacht, beginnen die gelben Blätter zu verblassen, zu verfliegen. Wer das Fliegen und Verfliegen nicht haben will, betrachte die Blätter besser nicht. Wer sie ansieht, wird sie langsam verfliegen sehen, ihr Gelb. Schon im Titel des Zyklus und der Ausstellung im Wiener MUSA ist die Rede vom Fliegen und Verfliegen der Bilder und dem Zeitraum des Verschwindens: viola volando 22.10. – 18.11.2020. Im Oktober und November werden die Bilder nicht nur ausgestellt – sie werden fliegen und zu verfliegen beginnen. Sie ansehen und betrachten ist sie zum Fliegen bringen. Wer lange zusieht, wird sehen, wie das Gelb unsichtbar wird. Es gibt also die Möglichkeit, das Unsichtbarwerden zu sehen.
Das langsame Unsichtbarwerden. Doch auch das Unsichtbarsein. Der Titel der Ausstellung verspricht vielleicht, daß die Unsichtbarkeit nicht nur eintreten wird, sondern schon da ist, die Farbe viola bereits fliegt, ihr i verloren hat, viola zu vola geworden ist, Flug und Verflüchtigung. Das unsichtbare Violett ist schon da – das Violett ist schon weg. Die Bilder sind alle violett, es ist ein besonderes Violett. Es ist unsichtbar.
„446. Komisch wäre es zu sagen: ‚Ein Vorgang sieht anders aus, wenn er geschieht, als wenn er nicht geschieht.‘ Oder: ‚Ein roter Fleck sieht anders aus, wenn er da ist, als wenn er nicht da ist – aber die Sprache abstrahiert von diesem Unterschied, denn sie spricht von einem roten Fleck, ob er da ist oder nicht.‘“ Die Sprache, schreibt Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen, abstrahiert von dem Unterschied zwischen daund nicht da. Sie teilt mit, daß es fast eine Gleichheit gibt oder eine Ähnlichkeit. Die Sprache sagt rot, ob nun der rote Fleck da ist oder nicht. Die Sprache sagt zum Beispiel: Hier ist kein roter Fleck. Der Satz, der von keinem roten Fleck spricht, spricht zugleich von einem roten Fleck. Nicht rot ist auch rot.

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Das Violett in den Bildern des Zyklus viola volando, ist es da und nicht da? Abstrahieren diese Bilder? Abstrahieren sie von dem Unterschied zwischen Violett und Nicht-Violett? Darum, weil es gar kein Nicht-Violett gibt? Alles ist violett, manches ultraviolett? Sind diese Bilder nicht violett – darum violett? Entfernen sie sich von einem Unterschied? Entfernen sie sich auch von der Identität? Violett, es ist nicht bloß violett – es kann auch nicht-violett sein?
Was ist Gelb? Ist Gelb eine violette Erscheinung? Ist das Gelbe das Violett, das verblasst oder verflogen ist? Ist das, was nicht da ist, eine Ergänzung? Ergänzt das Abwesende das Anwesende?
Wer diese Bilder zu lange offen liegen lässt, wer sie zu lange betrachtet, macht es ihnen leichter, sich zu verflüchtigen – das violette Gelb wird bald verfliegen und blass werden und seine Ergänzung wird eintreten, fast die Komplementärfarbe Volando – und mit dieser Ergänzung, complementum, die Fülle und Erfüllung. Die Bilder dieses Zyklus fliegen und verflüchtigen sich und erfüllen sich. Die Bilder, indem sie sich leeren, füllen sich. Complementum, plerusque, plurimorum, das Meiste – auf den Bildern ist das Meiste, sichtbar im Leerwerden.

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Fülle. Die Formen, die Fast-Buchstaben oder Nicht-Buchstaben stehen seltsam eng, zusammengedrängt, verschlungen auf dem leichten und flüchtigen Gelb. Da sind vergängliches Gelb und wenig Violett, die bei Lichteinfall, bei zuviel Sonnenlicht bald weggehen. Da ist bald nichts, aber die Formen oder buchstabenlosen Verschlingungen, das abc-lose ABC, sie stehen dichtgedrängt auf dem Blatt. Und noch erfüllter und voller ist das Innenleben dieser Formen und Schlingen. Unzählbar viele sind die Bleistiftstriche in jeder dieser Formen, dieser langen Blätter auf Blättern. Unzählbar viele Zeichnungen in jeder Zeichnung – doch geschrieben steht da eigentlich nichts. Da steht kein Wort, wo soviele Zeichen stehen. Da steht eigentlich kein Wort, aber es ist mit Tausenden und Abertausenden von Bleistiftstrichen geschrieben worden. Da steht ganz viel und gar nichts. Und die beiden, das Viel und das Nichts, ergänzen einander.
In der Ausstellung viola volando entsteht die Fülle auch darum, weil ihr etwas zugrunde liegt, das sehr wenig ist und das sie vervielfacht, in fast unendlich viele Striche übersetzt. Der Vielheit der Blätter liegt etwas Einzelnes zugrunde, ein einzelnes kurzes Gedicht des auf der Insel Grado geborenen italienischen Dichters Biagio Marin, das Gedicht Co intro nel silensio tovo aus dem Zyklus El vento de l’eterno se fa teso, 1973 veröffentlicht. Das Gedicht und die Übersetzung des Gedichts ins Deutsche hat Natalie Neumaier gefunden in dem Gedichtband In Memoriam Marin. Dort hat sie gefunden: Wenn ich in deine Stille trete. Sie hat deine Stille in dem Gedicht gefunden und: dort vom Brombeerbeet / hör ich dein Gedicht.
Eine Übersetzung scheint keine Abbildung zu sein oder der Versuch einer treuen Wiedergabe von etwas, sondern eine Ergänzung. Sie sagt nicht mit anderen Worten, was das Original schon gesagt hat, sondern ergänzt das Original und macht sich dabei selbst zum zweiten Original. Sie kann das Gradesische ergänzen um das Deutsche. Kann dann das Gradesische des Originals auch Deutsch sprechen?
Zugleich geschieht eine Verflüchtigung des Originals – das originale Gedicht wird flüchtig, verfliegt in der Anwesenheit der Übersetzung. Das originale Gedicht beginnt zu fliegen, anstatt dazustehen. Es ist beinahe verflogen, aber es ist noch da in der Übersetzung. Es gewinnt eine Beständigkeit. Das viola des Originals ist vola geworden. Weg ist es und da ist es. Kein Violett mehr, aber übersetztes Violett. Dieses übersetzte fliegende Violett unterscheidet sich wenig vom originalen Violett – volare unterscheidet sich kaum von viola. Ein Strich unterscheidet die beiden und der fliegende i-Punkt. Im volando ist viola nicht mehr und immer noch.

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Sind die Zeichnungen auf gelbes Papier gezeichnet? Ist auf den Bildern auch eine unsichtbare Farbe zu sehen? Ergänzen die gelben Blätter eine andere Farbe? Ist die gelbe Farbe die Übersetzung? Ist die andere Farbe, die auf den Bildern nicht zu sehen ist, dennoch sichtbar? Ist das Verflogene zu sehen? Ist etwas in seiner flüchtigen Gestalt zu sehen?
Ist die Poesie von Biagio Marin Ausdruck eines Nicht-trunken-Seins vom Ich? Ist sie weniger verknüpft mit dem Ich als mit einer Ferne? Das Gedicht, auf welches die Ausstellung viola volando antwortet, endet mit zwei Verneinungen, mit zwei Abwesenheiten. Das Ich des Gedichts beschreibt sich und verflüchtigt sich als: A-Violett und Amethyst. Zweimal verneint der Buchstabe A das Wort, in dem er geschrieben steht. Das A macht aus Violett ein Nicht-Violett und aus Methyst einen Nicht-Methysten. Beim Übersetzen scheint es vielleicht immer um dieses A zu gehen. Was ist dieses A? Violett ist Violett. Was ist A-Violett? Methyst ist Methyst, das Wort bedeutet im Griechischen Trunkensein. Was ist Amethyst?
Um sich das A zu erklären, betrachtet die Zeichnerin ihre Zeichnung und die Striche rundum. Ist in den Strichen eine Antwort zu entdecken? Zwischen dem Buchstaben A und dem Wort Violett steht ein Strich: A-Violett. Amethyst: kein Strich zwischen erstem und zweitem Buchstaben. Warum ist im A-Violett ein Strich? Die Zeichnerin beginnt zu zeichnen, auf gelben Papieren, auf Nicht-Violett, auf einer Komplementärfarbe. Sie zeichnet auf einem a-violetten Blatt, auf einer unsichtbaren Farbe. Ist die Farbe da, ist sie nicht da? Lässt sich etwas nicht entscheiden?
A-Violett: Ist hier auch etwas nicht zu entscheiden? Ist das verneinende A dem Buchstaben V nicht sehr ähnlich? Kein wirklicher Gegensatz, eher eine Ergänzung? Ist der eine Buchstabe der auf dem Kopf stehende andere? Und der Unterschied zeigt sich in dem waagrechten kleinen Strich, der kein richtiger Buchstabe ist, der eine kleine Zeichnung ist?
Was ist also A-Violett? Ist da vor allem eine Ähnlichkeit, die Ähnlichkeit von Nicht-Da und Da? Von Gelb und Violett? Erst in diesem Nicht-Da scheint das Da seinen Platz zu finden: Wenn ich in deine Stille trete, hör ich dein Gedicht. Die Welt ist kein Besitz.

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Wenn ich in deine Stille trete,
scheu, der Schritt nicht sicher,
dort vom Brombeerbeet
hör ich dein Gedicht.
Verjag mich nicht:
mach ich mich himmelleer
und verknüpf ich mich
mit deiner Ferne.

Ich sage nicht zu sein;
Dauer ist mir ungewiß:
ich bin keiner:
A-Violett des Amethyst.

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Das Gelb der Blätter erlischt langsam im Sonnenlicht. Aber es gibt in der Ausstellung noch eine andere Flüchtigkeit. Eine Hälfte der Exponate, viele der handschriftlichen Notizen und Zitate, liegt. Diese Blätter liegen waagrecht auf dem Fußboden. Ringsum an den Wänden hängen die anderen Exponate. Ein Teil der Ausstellung liegt, ein Teil fliegt. Stehen die liegende Hälfte und die fliegende in einem Gegensatz? Oder ist die eine die liegengelassene und die andere die losgelassene? Die Notizen sind da, man könnte sagen stehen da, stehen da waagrecht wie der kleine Strich im Gedicht. Die Blätter an den Wänden fliegen über die Wände, da steht nichts. Sie sind im Flug und nicht mehr ganz da, schon halbwegs abwesend, a-violett.
Beide, die Blätter in der Höhe wie die Blätter auf dem Boden, sind entstanden auf Tischen, auf einer ebenen Fläche, beide Blätter sind waagrecht gelegen unter der Hand der Zeichnerin und Schreiberin. Alles ist in der Waagrechten entstanden, auf ähnliche Weise. Doch eine Hälfte der Blätter wird dann a-horizontal freigelassen. Die Blätter fliegen weg von den Blättern. Sind sie noch da? Violett ist weg, ist gelb noch da? Da liegt es, das Violett, ein Bett und Beet. Und das Leben lebt und ist flüchtig. Und beide zusammen?

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Wer sie genauer studiert, wird sehen, daß auf der unteren Hälfte der Karte, welche zur Ausstellung einlädt, das Wort Amethyst viele Male handgeschrieben steht und befragt wird. Es wird danach gefragt, was der Stein nicht ist. Was das a-violette Nicht-Sein ist. Stein oder Nicht-Sein. Ebenfalls in der unteren Hälfte sind ein paar Zeilen in hellblauer Schrift geschrieben, eine Strophe des Gedichts Sohn, es sei die Sonne gepriesen. Das Gedicht steht in dem Zyklus In memoria. Es erinnert an den, der nicht mehr ist, an den Enkel von Biagio Marin. In der Widmung, die den Gedichten vorangestellt ist, wird er genannt: Guido di Serena, der dem Leben entsagte den 11. November 1977.
In dem Gedicht begegnet die Zeichnerin wieder einem Brombeerstrauch. Sie begegnet dem Violett im Brombeerdickicht, das unten wächst und widerständig ist. Und dem Flüchtigen in der Höhe, dem gelben Licht der Sonne, dem Solaren und dem Volaren.
Werd ein Brombeerendickicht
um zu widerstehen
und laß aufgehen
dich wie Licht.
In der Ausstellung sehe ich die Brombeerdickichte liegen und das A-Violett fliegen. Ich seh ich seh was ich nicht seh.

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Sind die Blätter auf dem Boden da?
Sind die Blätter auf der Wand nicht mehr da?

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Mitten in einem ausgestellten Notizbüch stehen Zitate aus Coming to Writing and Other Essays von Hélène Cixous.
"Vorwort The other must remain absolutely strange within the greatest possible proximity. Absolutely strange, yet as close to me as my own self."
"S. 1 I was before it. I sensed that there is a beyond, to which I did not have access, an unlimited space. The book incited me and also forbade me to enter"
"S. 3 To confront perpetually the mystery of the there – not there. The visible and the invisible."
"S. 4 I write and you are not dead."
"S. 31 At this point I discovered that I didn’t know where the human begins, what is the difference between the human and the nonhuman? Between life and nonlife? Is there a ‚limit‘?"
"S. 36 In German I weep, in English I play, in French I fly."
"S. 40 Let yourself go! Let go of everything! Lose everything! Take to the air."

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Was ist eine Brombeere? Brom, im Englischen bramble. Ästchen, Gezweig. Ist Brom ein Gestrichel? Was ist eine Beere? Das Wort bedeutet ursprünglich nicht Beere, sondern Purpur oder Rot. Eine Brombeere ist, bedenkt man die Wortgeschichte, Purpurgezweig.
Seltsames Wechselspiel. In der Ausstellung da, beginnt die gelbe Färbung der Blätter zu schwinden – in den Mappen aufbewahrt und verschwunden, bleibt die Farbe da.
Die unzählbaren vielen Bleistiftstriche – zeigen sie etwas nicht? Zeichnen sie etwas nicht?
In der Mappe bleiben die gelben Blätter da. In der Ausstellung beginnt ihr Nicht-Da. Wer sie hat, hat sie nicht mehr lange. Wer sie nicht hat, hat sie lange. Verlust durch Gewinn. Und Gewinn durch Verlust.
"Un color viola perso d’ametiste", schreibt Biagio Marin. Eine verloren gegangene violette Farbe des Amethysten. Er schreibt: Ich bin die verloren gegangene violette Farbe des Amethysten. Bin ich die Farbe? Bin ich keine Farbe? Ist die Farbe verloren gegangen oder ist es noch Violett? A-Violett? Ist die Farbe, verloren gegangen, noch Violett? Verletztes Violett? Violetzt? Letztes Violett? Ist in der gelben Farbe der Blätter das Violett verloren oder ist es dort ergänzt? Sehen wir das Komplementäre zum Violett? Was also sehen wir?

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Nicht gerade das beste Papier, dieses gelbe Photokopierpapier der Firma Papeteries de Clairefontaine. Vom Zeigen, vom Transport, vom Umblättern, Hochheben und Legen sind die Blätter schon etwas knittrig geworden und wellig. Diese und jene Ecke biegt sich. Für die Dauer sind sie nicht gemacht. "Dauer ist mir ungewiß."
Auf einem der Blätter entstehen (oder vergehen) aus einer Vielzahl von Bleistiftstrichen drei gerundete Formen, die an Blätter erinnern, vielleicht an Beeren. Die drei Formen liegen teilweise übereinander, ohne daß zu bestimmen wäre, welche zuoberst liegt, welche zuunterst. Ohne daß das Oben und Unten oder das Davor und Dahinter erkennbar wird, liegen sie wie teilweise übereinandergelegt. Dort, wo es zu der Vermengung der drei Formen kommt und wo eine dichtere Dichte der Bleistiftstriche und eine dunklere Zone zu erwarten wären, bleibt alles gleich durchsichtig. Wo Form unter Form liegt, vermehrt sich die Menge der Striche nicht. Sondern? In diesen Überlappungen scheint es zu einer Auflösung zu kommen – wo es dichter zu werden scheint, wird es unsichtbarer. An der dichtesten Stelle, etwa in der Mitte der Zeichnung, ist die Unsichtbarkeit am größten. Man sieht dort eine größere Unsichtbarkeit. Man könnte sagen: Dort ist deutlich weniger zu sehen.
Im wirklichen Hintergrund dieses Bildes ist das Gelb. Doch ein Gelb, das alsbald verblassen wird, wenn ich noch lange schaue. Ich sehe in der Bildmitte beinahe nichts. Und wenn ich lange dieses Beinah-Nichts anschaue, wird auch der gelbe Hintergrund nichts werden.
Was sehe ich in der Bildmitte. Ich sehe das Schweben.

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Eine anscheinend verzierte Figur, die sich zusammensetzt aus zwei größeren Rundungen: Die Figur besteht aus schwarzen Nichtsflächen und erlöschenden gelben Formen. Aus Nichts und aus erlöschendem Gelb entsteht etwas vielfach Gekurvtes, Gerundetes – Rundungen in Rundungen eingerollt.
Was da als Zierde auf den Oberflächen oder in der Figur erscheint, gehört es alles der Figur? Oder sind diese ihre Oberflächen aus Rundungen und Schwingungen und Ornamenten gar nicht ihre und gar nicht zuoberst – sind sie der gelbe Hintergrund? Hat die Figur keine gelben Zeichen, sondern der Hintergrund ist gelb? Was da gelb ist, die gelbe Zierde, das gehört nicht zur Figur und ist nicht wirklich sichtbar? Da ist etwas auf der Haut, das nicht sichtbar ist? Das Gelb wird in der Zeichnung zum Drehen und Kurven gebracht – das doch eine kurvenlos und schwingungslos flache Fläche ist? Man sieht Schwingungen, wo keine sind?

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Auf einem der Bilder ist eine Art Mappe geöffnet. Eine Mappe, in die fünf mal sechs Quadrate eingelegt sind. Fünf mal sechs liegende Bildchen. Doch die andere Hälfte der Mappe, die untere Hälfte scheint nicht so zu liegen wie die liegende Hälfte. Die Zeichnungen der unteren Hälfte scheinen das gelbe Clairefontaine Papier in Schwung zu bringen, in Schwingung und Drehung, sie entfalten und drehen und runden die Mappe – sie heben die Mappe in die Höhe. Was sich nicht hebt, das gelbe Papier, die auf dem gelben Papier liegende Mappe, wird in die Höhe gehoben. Hier fallen nicht die Strahlen der aufgegangenen Sonne in das Papier und die Welt, hier geht etwas Anderes auf und schwebt in der Luft. Hier wird Licht erzeugt. Ich sehe eine lichterzeugende Mappe.
Die liegenden Blätter, die Mappe, warum sie zum Schweben bringen?
Weil wir dieser Schwebenden bedürfen?
Des Aufsteigens bedürfen?
Wer sind diese an den Wänden Schwebenden, Aufsteigenden?
Sonnen?
Aufgehende Sonnen?

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Jetzt aber schnell die Mappe der Zeichnerin wieder geschlossen. Damit die gelben Blätter nicht zu lange sichtbar sind unterm Lichteinfall. Schnell sie versteckt, damit ihre Sonnenlichter bleiben können. In der Mappe geschützt, um heraufzuschweben.

Wien, Oktober 2020
Peter Waterhouse